Nun ist er zu uns gekommen. Der Tod aus dem Mittelmeer. Er findet auf unserer Autobahn statt: 70 tote Menschen, teils bereits verwest. 70 hoffnungsvolle Herzen, auf der Suche nach dem Leben - erstickt.
Wenn ich die Bilder sehe, dann überkommt es mich unwillkürlich. Ich denke an die Bilder von Vergasungswagen der Nationalsozialisten. Dort hat man die Opfer hineingetrieben, ersticken lassen und dann lagen sie zusammengesackt drin - genauso wie es auf den Bildern aus Parndorf aussieht. Vor allem im Feldzug gegen die Sowjetunion waren die Gaswagen hinter den Linien im Einsatz - Hunderttausende ließen darin ihr Leben.
Nun also 70 Tote bei uns im LKW. Das ist noch einmal ein anderes Gefühl als die Tausenden, die im Mittelmeer auf der Flucht ersaufen. Und ich frage mich: Könnte mir das auch passieren?
Ich versetze mich in die Situation eines Syrers. Nach vier Jahren Bürgerkrieg. Mit Fassbomben, mit Folter durch das Assad-Regime, mit Enthauptungen durch IS-Verbrecher, Verbrennungen bei lebendigem Leib - ich würde fliehen, wenn ich irgendwie könnte. Ich würde fliehen so schnell ich könnte und so weit ich könnte. Würde ich an der Grenze bleiben und warten, bis die IS-Schergen in der Türkei zuschlagen wie bereits geschehen? Würde ich im Libanon bleiben, im Würgegriff der Hezballah, die Flüchtlingslager kontrolliert? Nein, ich würde fliehen so weit ich kann.
Vielleicht würde ich sogar nach Mitteleuropa fliehen. Möglichst nahe an Genf, wo die Genfer Flüchtlingskonvention herkommt. Dieses große Werk der Menschenrechte. Kein Land darf einen Flüchtling von seiner Grenze zurückweisen, wenn dadurch sein Leben gefährdet wird heißt es in Artikel 33 der Genfer Konvention. Das kann nicht nur geografisch gemeint sein. Ein Land hat seine Verantwortung wahrzunehmen, dass seine Grenzen nicht töten.
Wüsste ich als Flüchtling, wie man sicher nach Europa kommt? Nein, ich wüsste nicht wie man Grenzen unbeobachtet überquert. Ich wüsste nicht, wie man Grenzflüsse durchwatet, wie man in einem Land sicher vor der Polizei und vor den Schergen aus Syrien ist.
Vielleicht bräuchte ich Hilfe. Fluchthelfer mag man sie nennen, oder von mir aus auch Schlepper. Großherzige Menschen werden darunter sein, Geschäftemacher werden darunter sein, Skrupellose und Menschenfreundliche - so wie eine Gesellschaft sonst auch ist, und wie sie sich in einer Notlage zuspitzt. Es wäre mir egal, warum sie mir helfen. Ob sie nur an mir verdienen wollen oder ob sie mir etwas Gutes tun wollen. Ich würde versuchen, ihre Motive zu prüfen, und zitternd würde ich mich in ihre Hände begeben. Wenn sie zu mir sagen: Steig in den LKW - wahrscheinlich würde ich es machen. Auch mit 69 anderen. Die Fahrt geht los, Licht aus.
Wenn wir an die Zeit des Nationalsozialismus zurückdenken, dann finden wir die Position der Schweiz meist untragbar: Wie kann man nur Menschen in einer Notlage an der Grenze zurückweisen? Oder man denke sich wie wir es beurteilen würden wenn die BRD Flüchtlinge über die Mauer zurück in die DDR geschickt hätte. Oder Südkorea Flüchtlinge zurück in den Norden. Und ich frage mich: Um wie viel anders sind wir heute? Klar, man kann auch sagen: Bleibt in Ungarn, bleibt in Italien - dort ist es auch sicher. Ich finde es trotzdem unmenschlich, Hilfesuchende an der Türschwelle abzuweisen. Wir werden doch zumindest einen Stall für sie haben?
Früher konnte man Asylanträge für Österreich auch an den österreichischen Botschaften im Ausland stellen. Das geht schon länger nicht mehr. Dafür muss man sich bis nach Österreich durchschlagen. Dafür braucht man Schlepper. Wer sich dieses System ausgedacht hat, der liefert Menschen den Schleppern aus - und macht sich somit mitschuldig an den Toten von Parndorf.
In einer Situation wie wir sie heute vorfinden, mit ihren Millionen von Flüchtlingen da reicht ein individueller Asylantrag in der österreichischen Botschaft in Ankara aber wahrscheinlich nicht aus. Da braucht es Resettlementprogramme und es braucht sichere Korridore für Flüchtlinge.
Ein Perspektivenwechsel: Wenn wir historisch über Fluchtbewegungen nachdenken, dann haben die Aufnahmeländer von der Flüchtlingen profitiert: Die USA von den Religionsflüchtlingen aus Europa etwa, aber auch von den Wirtschaftsflüchtlingen aus Irland. Deutschland und Südafrika von den geflüchteten Hugenotten. Österreich von den Flüchtlingen aus Ungarn. Die Liste lässt sich fortsetzen. Das war nie einfach, aber schlussendlich war dort, wo die Flüchtlinge angekommen sind Leben für alle. Statt nun den Flüchtlingen die Schuld an ihrem eigenen Tod zu geben, statt auf die Schlepper zu zeigen - ob großherzig oder skrupellos - fragen wir uns lieber, welche Möglichkeiten die österreichische Politik hat, damit Menschen nicht auf LKW-Ladeflächen verrecken müssen.